Kunstforum BAND 146, JULI AUGUST 1999, SEITE 328, GESPRÄCHE MIT KÜNSTLERN
BORIS BECKER: »Den Blick in die Weite liebe ich wie überhaupt
Aussichten«
EIN GESPRÄCH VON HEINZ-NORBERT JOCKS
Boris Becker, 1961 in Köln geboren, Becher-Schüler in der zweiten
Generation, ist, wenn er sich mit der Kamera auf die Bildsuche begibt,
mehr auf formale Strukturen und Farbakzente denn auf die schönen
Schlüsselreize von Stadt- und Naturansichten konzentriert. Im Grunde
handelt es sich um eine eher nüchterne und ernüchternde Fotografie,
die so etwas wie Grundlagenforschung unseres Sehens betreibt, ohne dabei
den direkten Dialog mit der Malerei, insbesondere der monochromen, zu
beabsichtigen.
Was an seiner gegengängigen Art der Erfahrbarkeit von Welt irritiert,
ist das plötzliche Umkippen von dem, was konkret sichtbar ist, in
abstrakte Ortlosigkeit. Wichtig ist hier nicht mehr, was wann wo aufgenommen
worden ist, sondern wie das im Ausschnitt Gesehene als autonomes, mit
der Realität nicht mehr vergleichbares Bild seine Wirkung zeitigt.
Mit Boris Becker sprach in Köln Heinz-Norbert Jocks.
Heinz-Norbert Jocks:
Wie kamst du überhaupt zur Fotografie?
Boris Becker:
Ich bin schon mit fünfzehn Jahren so herumgelaufen, um zu fotografieren,
und drehte Super 8-Landschaftsfilme, indem ich bestimmte Dinge aus verschiedenen
Blickwinkeln abtastete und Kamerafahrten machte. Das ist in der Fotografie
nicht möglich. Eine Zeitlang dachte ich daran, Filme zu machen, aber
kam schnell zu dem Schluß, als Autorenregisseur auch finanziell
vor kaum lösbare Probleme gestellt zu sein.
Gab es für dich einen Bildermachzwang?
Ja, irgendwann gab es den Drang dazu. Als ich anfing, strebte ich nach
schönen Bildern, anmutig in Szene gesetzt. Ich merkte jedoch schnell,
daß das nicht so weitergeht, weil es keinen Sinn macht, weiter nach
derartigen Bildern zu jagen, sondern daß Fotografie mehr von einem
erfordert, wenn es zu einem Bild kommen soll, das etwas besagen soll.
Es bedarf eines gedanklichen Hintergrunds und eines Bewußtseins
dessen, was man macht, damit ein Themenkreis daraus wird. Man muß
eine Auswahl treffen, so offen der eigene Blick auch ist. Der Schritt
dahin, ein Bild zufinden und dieses aufzubauen, statt drauflos zu fotografieren,
war entscheidend.
So ein praktisches System erlaubt einem, verschiedene Erscheinungen eines
Motivs zu sammeln.
Ja, anders aber im Fall der Felder oder Gebäude, wo ich vorher gar
nichtwußte, wo sie zu finden sind. Es ist eher selten, wenn es auch
vorkommt, daß ich ein bestimmtes Motiv irgendwo gesehen habe, wo
ich dann hinfahre. Wenn ich aufbreche, so ist es eher so, daß mich
etwas anspringt oder irgendwo
plötzlich etwas auftaucht. Es mag sein, daß das mir Zufallende
schon in so einem Grundkonsens einer Arbeit vorhanden ist.
Hast du Angst vor dem Beliebigwerden von Motiven?
Eigentlich nicht. Streng mit dem, was ich aufnehme, fotografiere ich nicht
besonders viel. Von einer ein- bis zweitägigen Erkundigungstour bringe
ich oft nicht mehr als zwei Motive mit.
Was läßt den Auslöser auslösen?
Ich kann es dir gar nicht sagen. Beim Herumlaufen oder während der
Autofahrt bildet sich in meinem Kopf ein Motiv heraus, das ich gesehen
habe, und ich versuche, es mit Hilfe des Aufbaus der Kamera ins Bild zu
setzen. Dabei wird es auf eine Position reduziert fotografiert. Wieder
zurück, schaue ich erst einmal, ob es überhaupt verwendbar ist.
Es kann passieren, daß ich eine Arbeit ad acta lege und darauf verzichte,
damit zu operieren. Also ich laufe keineswegs mit einem Gedankenraster
durch die Gegend. Auch gehe ich nicht so vor, daß ich mich frage,
was mir denn noch in meiner Felder-Sammlung fehlt. Vielleicht ein Tulpenfeld?
Nein, es ist nicht so, daß ich darüber nachsinne,
wie sich die eine oder andere Motivaussage noch ergänzen läßt.
Du läßt es darauf ankommen?
Nein, das wäre mir zu beliebig. Es zeigt sich, daß etwas da
hineinpaßt oder funktioniert, und irgendwann gelangt alles zu einem
Ende, so wie bei den Feldern jetzt. Mit den letzten Schneefotos ist nichts
mehr da, was hinzufügbar wäre. Dadurch ist eine Stunde Null
markiert.
Hat sich das Motiv mit dem Schneefeld verbraucht?
Nun verbindet man mit dem Schnee-Motiv eh einen Endpunkt. Aber ich hätte
das Ganze genausogut mit einem reinen Erdfeld beenden können. Jedenfalls
ist jetzt alles gesagt. Trotzdem weitermachend, würde ich mich im
Kreis drehen. Bevor ich mich langweile, unterbreche ich die Reihe erst
einmal und
lasse alles ruhen. Falls mir doch noch etwas auffällt, was paßt,
kann ich das Thema wieder aufgreifen.
Was reizte dich an den Feldern?
Das Thema entsprang meiner Beschäftigung mit Architektur, wo ich
versuchte, zufällig an Architektur heftende Farb- und Strukturelemente
zu extrahieren, um sie zu einem Bild zu verdichten. Ab einem bestimmten
Augenblick ließ das Interesse daran nach, weil das stets ein bißchen
wegrutscht und an der gegebenen Architektur gemessen wird. So entwickelte
sich die Idee mit den Feldern in Verbindung mit von Landschaft umgebener
Architektur, da man dort noch das Bindeglied zwischen bewußt gestalteter
Umgebung und einer mehr oder weniger urban geprägten Landschaft hat.
Irgendwann jedenfalls fotografierte ich nur noch reine Farbflächen
in der Natur als eigenständige
Bildaussagen, wobei ich mich rein auf Farben und deren Strukturen konzentrierte.
Deswegen ging ich dazu über, Landschaften horizontlos aufzunehmen,
damit sich der Blick rein auf Fläche und Struktur richtet. Nun ist,
was zu sehen ist, nicht frei von der Natur gestaltet, sondern zeigt, daß
die Form einem menschlichen Eingriff zu verdanken ist.
Das heißt, sowohl Ackerflächen als auch artifizielle und wilde
Wiesen weisen Spuren von menschlicher Tätigkeit auf. Diese Eingriffe
ergeben bestimmte Formen, die mich reizen. Wie gesagt, ich bin nicht von
heute auf morgen von der Architektur zur Landschaft übergegangen.
Das war ein schleichender, über
zwei oder drei Jahre sich vollziehender Prozeß, der sich darin radikalisierte,
daß ich sämtliche Orientierungs- und Bezugspunkte tilgte, um
freie Flächen zu erzielen, weswegen ich die Arbeiten passepartoutlos
ließ.
Ich wollte keinen weißen Rand, sondern nur eine Aluminiumleiste,
damit alles ganz konzentriert
ist und wie ein Ausschnitt oder ein Objekt an der Wand ausschaut. Dieses
Freistehen und das Gefühl, nicht zu wissen, wo man ist, führt
zu einer Abstraktion und damit weg von der Frage des Abbildens von Realität.
Dieser schmale Grat zielt darauf, daß man einfach alles, ob nun
vorne oder ganz weit
hinten gelegen, aufgrund enormer Tiefenschärfe ungeheuer klar sieht,
ohne ausmachen zu können, was und wo das ist. Weder Ackerflächen
noch Wiesen sind klar zu erkennen. Interessant daran ist nicht das konkret
zu Sehende, sondern die Tatsache, daß man, obwohl alles zu sehen,
sich fragt, was das
Auge eigentlich erfaßt. Auf diese Balance zwischen Erkennen und
Verkennen durch Verstecken des zu Sehenden kommt es mir an.
Du provozierst eine Ortlosigkeit?
Ja, obwohl ich Orte fotografiere, wirken sie so ortlos wie undefinierbar.
Deshalb gebe ich den Arbeiten auch keine Titel, sondern Serien-Nummern,
dabei lokale Verweise vermeidend. Bei Architektur oder Personen finde
ich es noch ganz hilfreich, zu vermerken, was und wer abgebildet ist.
Bei anderem finde ich das irreführend.
Steckt dahinter die Frage, was Sehen heißt?
Sicher befasse ich mich mit dem Phänomen des Sehens, und wenn es
mir gelingt, Fragen aufzuwerfen, so ist es den Versuch auch wert. Daß
ich es unterlasse zu sagen, was ich will, hat auch mit meiner eingangs
erwähnten Unsicherheit und Unfähigkeit zu tun, zu definieren,
was ich mache.
Ich kann es nicht, weshalb ich auch vermeide zu erklären, mein Thema
sei das Sehen, weil ich auch im nachhinein nicht weiß, ob es funktioniert.
Ich will mich damit auseinandersetzen, aber es fällt verdammt schwer,
so ein Programm zuerfüllen.
Interessieren dich Spuren?
Ja, das Sublime ist mir wichtig. Bereits bei den Bunkern fand ich es spannend,
wozu die Spuren eines sich an Zweckobjekten äußernden Gestaltungswillens
im einzelnen führen, und zwar unfreiwillig.
Das bewußt Gestaltete, das zu direkt ablesbar ist, läßt
mich kalt.
Rührt dein Verhältnis zu den Farben von Feldern aus Kindertagen?
Nein, überhaupt nicht. Früher konntest du mich mit Landschaft
jagen. Daß ich mich damit befasse, überrascht mich selbst.
Es ist schön, wenn es auf so unerwartete Weise weitergeht, und beruhigend,
immer wieder auf andere Themen zu stoßen, ohne vorab zu wissen,
wie es weitergeht.
Stellst du dir beim Fotografieren Fragen?
Ja. Mir ist das an einer in Italien fotografierten Arbeit mit stark lokalem
Bezug aufgefallen.
Da fotografierte ich wellenförmige Hügel im starken Abendlicht,
die von Motiven her eindeutig auf Italien verweisen. Das hat mich so erfaßt,
daß ich es aufnahm. Es funktioniert sogar so in der eben umrissenen
Balance, daß ich mich hinterher fragte, wieso es gerade mit dem
Bild gelingt, dessen Motiv lokalisierbar ist? Meine Frage ist: Wieso funktioniert
das so in meinem Kontext?
Willst du die Bilder auf Fragen hin so verdichten, daß auch der
Betrachter sich diese stellt?
Nein, das nicht. Die Fragen bleiben bei mir. Ich denke an alles mögliche,
wenn ich herumfahre. Beispielsweise, ob ich noch tanken muß. Das
alles blende ich aus, und es ist mehr eine Frage des Weglassens, wenn
ich arbeite. Übrig bleibt ein Surrogat dessen, was ich den Tag über
gemacht habe. Die Arbeiten sollen eben nicht mit dem, woran ich denke,
vollgestopft werden. Das Hauptproblem ist, alles auszublenden. Manchmal
nehme ich auch Dinge unbewußt auf. Ob das geht, stellt sich erst
bei der endgültigen Auswahl heraus.
Hat Fotografieren mehr mit Aus- und Weglassung zu tun?
Ja. So habe ich viel in der von Prostituierten bevölkerten Umgebung
von Rom fotografiert. Diese Landschaft ist so voll von kaputten Wohnvierteln
und die Straßen so voll von unsäglichem Müll, daß
sich daran hauptsächlich gesellschaftliche Probleme zeigen. Den sozialen
Aspekt wollte ich ganz
raushalten, und auch ein wie auch immer gearteter Sonnenuntergang sollte
nicht vorkommen.
Das alles verschwindet durch den Ausschnitt, wobei ich so vorgehe, daß
ich die Fotografie meistens ohne Ausschnitt vergrößern lasse.
Das heißt, bereits bei der Aufnahme lege ich den Ausschnitt so fest,
wie ich ihn vergrößert haben möchte. Keine Manipulation.
Allenfalls ein kleiner Kratzer vom Clip, der sich beim Entwickeln eingenistet
hat, kommt weg. Ein Bild von Anfang an so zu durchdenken und im Ausschnitt
festzulegen, daß es beim Fotografieren bereits so fixiert ist, wie
es in der Vergrößerung werden soll, das finde ich reizvoll.
Nur die Panoramen, die von ihrer Höhe und Breite her eben ein anderes
Format haben, bilden eine Ausnahme. Da ist es technisch nicht anders möglich,
da ich mit meiner Kamera nicht so fotografieren kann, daß sich das
ohne Wegschneiden vergrößern läßt.
Warum wolltest du keine Prostituierten im Bild?
Das hätte, weil ein anderes Thema, nicht in den Arbeitszusammenhang
gepaßt.
Soll der Betrachter wissen, daß du das soziale Umfeld eines Bildes
ausblendest?
Es hat keinerlei Relevanz für das Bild und ist nur eine Anekdote
und keine Bilderklärung. Ich finde allerdings, daß ein sozial
belastetes Motiv ein der Kunst ebenso angemessenes Thema sein kann. Meine
Bunker oder die abgewrackten Hochhäuser sind, wenn auch nicht mein
Urinteresse, auch
gesellschaftliche Themen.
Sind für dich Bilder nur Bilder oder auch interpretierbar?
Das eine schließt das andere nicht aus. Ein Bild kann interpretiert
werden, und es kann auch als solches in Ruhe gelassen werden. Sich nur
daran zu erfreuen, ist vielleicht zu wenig. Was damit passiert, hängt
von dem Betrachter ab. Wenn jemand seinen Assoziationen freien Lauf läßt,
so bin ich
zufrieden. Es erstaunt mich, wenn recht einfache Dinge als Anstoß
dienen, um über Fragen des Bildaufbaus, über Formen und Strukturen
nachzudenken.
Jedoch will ich weder jemanden zu irgend etwas zwingen, noch erwarte ich
bestimmte Interpretationen.
Apropos Bunker, hast du dich mit Paul Virilio beschäftigt?
Sein erster, vom Centre Pompidou herausgegebener Katalog, der mir mit
fünfzehn in die Hände fiel, beeindruckte mich sehr. Nun sind
seine Bunker andere als meine. Er konzentrierte sich ja auf Reste ehemals
bewaffneter Verteidigungsanlagen am Atlantikwall und an der südfranzösischen
Küste und
ich mich auf reine Luftschutzbunker in deutschen Städten. Bei Virilio
faszinierte mich das beinah Surreale der funktionslos an Stränden
herumstehenden Objekte, die dort irgendwie nicht hingehören. Die
noch vorhandenen Überbleibsel des Krieges mit der sich daherumrankenden
Geschichte
beflügelten meine Fantasie, obwohl das mit meiner Biographie nichts
zu tun hatte. Die Begegnung mit Virilios Arbeiten trug sicherlich mit
dazu bei, daß ich sechzehnjährig in den Ferien mit einer Klack-Kamera
Bunker am Strand fotografierte.
Hast du Virilio gelesen?
Ja, aber sein Buch Krieg und Kino konnte ich nicht nachvollziehen. Die
Kamera als Geschoß, das war ein Denkansatz, der mir zwar einleuchtet,
den ich für meine Arbeit allerdings nicht übernehmen konnte.
Seinen Katalog nahm ich mehr als ästhetisches Phänomen .
Inwiefern hat sich deine Haltung gegenüber Virilios Fotos verändert?
Zunächst verband ich damit eine narrative Komponente, insofern ich
damit Krieg, Abenteuer und andere Geschichten assoziierte, wodurch ja
vielleicht die Fantasie eines jeden Jungen angeregt wird. Es war halt
abenteuerlich, darauf zu klettern, daran herumzuturnen und sich dabei
etwas Dunkles,
Vergangenes und Geheimnisvolles vorzustellen. Diese Seite fiel später
insofern weg, als ich das Spielerische der Jugend ausklammern wollte,
auch wenn es noch präsent war.
Was bedeutet dir die Minimal-art?
Sie spielt da gewiß mit hinein, aber keineswegs allein. Mir war
es immer wichtig, daß es verschiedene Aspekte gab. So ein Spitzbunker
erinnert durchaus an ein Objekt der Minimal-art; das ist ein Aspekt. Aber
gleichzeitig besitzt er etwas Erzählerisches, wenn ich diesen Aspekt
auch durch meine Art
der Fotografie nicht so forcierte. Aber der Bunker berichtet auch von
seiner Einsatzzeit. Ich fand es spannend, daß ein solches Foto auf
verschiedenen Ebenen funktioniert. Zum einen ist da das Narrative, zum
anderen das auf die Objektkunst Reduzierte und außerdem der gesellschaftlich-historische
Aspekt, verbunden mit der Frage, warum wer wann Bunker gebaut hat.
Damit befaßte ich mich nur am Rande.
Warum?
Eigentlich nur aus Interesse an Hintergrundinformationen. Ich habe keine
Enzyklopädien zu Rate gezogen, wohl aber mich zu Fragen des Luftkrieges
und der Architekturgeschichte kundig gemacht, um das besser einordnen
zu können. Wissen wollte ich, warum bestimmte Bunker so aussehen?
So erfuhr ich z.B., daß sowohl die Flaktürme in Wien als auch
in Hamburg und in Berlin von dem auch in Düsseldorf als Baurat nach
dem Krieg tätigen Dr. Tamms gebaut worden waren, von dem übrigens
auch die sich durch Düsseldorf ziehende Hochbrücke stammt.
Was verbandst du mit den Bunkern?
Es waren funktionslose Überbleibsel aus der Kriegsepoche, die, da
Architekten an einer Formsprache arbeiteten, mit der Zeit selbständige
Formen annahmen, damit sie sich der Umgebung anpaßten. Daß
man an reinen Zweckbauten solche Kapriolen schlägt, das war ein Punkt,
der mich reizte.
Zwischen der ersten Begegnung mit Virilio und dem Versuch, mit Bunkern
umzugehen, liegen ja acht Jahre.
In Anbetracht der Bunker, was hast du dir da vorgestellt?
Wer wie ich 700 Bunker fotografiert hat, der muß eine wie auch immer
geartete Affinität dazu haben. Letztendlich kann ich mir das nur
mit einer Grundfaszination für Kriegsüberbleibsel erklären.
Um herauszufinden, warum ich mich so mit Nazi-Architektur auseinandersetzte,
und um das Umfeld zu
klären, besorgte ich mir entsprechende Literatur, die mich aber nicht
schlauer machte. In meiner Familie war auch niemand, der damit etwas zu
tun hatte.
Vielleicht werfen die noch sichtbaren Spuren des Krieges Fragen auf, die das Land
betreffen, aus dem du stammst?
Nur standen die Bunker nicht in meiner unmittelbaren Umgebung. Vielmehr
mußte ich mir Adressen beschaffen, mit Bauämtern korrespondieren,
um in Erfahrung zu bringen, wo ich welche finde. Wie gesagt, ich benötigte
einen theoretischen Unterbau zur Fortsetzung der Arbeit, und das war mit
Reisen
verbunden. Es gab damals keine umfassende Untersuchung zur Bunkerarchitektur.
Im Sammeln von Informationen lag ein Reiz, wobei das Zusammentragen, woraus
sich ein Gesamtbild ergibt, eben auch ein bei den Bechers erlerntes, heute
für mich nicht mehr so interessantes Prinzip ist.
Faszinierend an den von Virilio abgelichteten Bunkern ist deren Meerlage,
so daß es von dort drinnen immer auch einen Ausblick in die Ferne
gibt, weil von dort der Gegner kommt. Den Blick in die Weite liebe ich
wie überhaupt Aussichten. Das Geschlossene hinter meterdickem Beton
und dazu die Weite,
das ist ein unglaubliches Erlebnis.
Die von dir gezeigten Felder zeugen von hügellosen Weiten.
Wobei ich die Weite durch Weglassen des Horizonts reduziere. Unterwegs
suche ich derartige Weiten, doch ist das dann entstehende Bild ein anderes.
Diesen Ausblick zu haben, empfinde ich, hier in der Umgebung wohnend,
fast
schon als Privileg.
Was bedeutet das Unterwegssein?
Grundsätzlich verreise ich höchst ungern. Jedoch ist dieses
Unterwegssein kein Verreisen, sondern eher ein Bilder-Findungs-und-Suchprogramm.
Ich begebe mich irgendwohin in Erwartung auf machbare Bilder, aber das
kann überall sein. Sowohl hier um die Ecke im Bergischen Land oder
weiter weg in Italien oder im Osten.
Hat sich dein Verhältnis zur Architektur durchs Fotografieren verändert?
Es kommt stets ein anderer Aspekt hinzu. Sei es eine Weite, eine bestimmte
Farbe oder ein neu entdeckter oder entwickelter Bildaufbau. Befriedigend
ist, auf etwas Neues zu stoßen, statt nur das Gleiche verändert
darzustellen.
Liest du vor oder auf Reisen Berichte über die anvisierten Orte?
Im Fall der Bunker bin ich stichpunktartig in die Stadt rein und wieder
raus. Das Umfeld war mir egal. Wenn ich Landschaften aufsuche, so lese
ich darüber Berichte. Schon allein deshalb, weil auf der Strecke
oft auch noch andere Dinge liegen, die sich anzusehen lohnen. Wenn ich
nicht fündig geworden bin, so war die Reise insofern nicht vergeblich,
weil ich noch anderes besichtigt
habe. Übrigens befaßte ich mich in Italien mit Ferdinand Gregororius
und seiner Sicht aus dem
19. Jahrhundert,Wanderjahre in Italien, um mehr über Landschaft
und Umgebung zu erfahren. Die gleichen Wege abfahrend, versetzte ich mich
sozusagen auch in die Ursprungszeit der Fotografie zurück und damit
auch in eine andere Wahrnehmung des Reisens. Irgendwo zu wandern oder
in einer urwüchsigen Landschaft zu reiten, ist etwas Grundanderes
als die Fahrt per Auto.
Was aus der Lektüre erinnerst du noch?
Ortsbeschreibungen und die kleinen Bergdörfer, die ich zum Teil ebenfalls
aufsuchte. Ich erinnere vor allem Geschichten aus den Sabiner Bergen nördlich
von Rom, wie er nachts im strömenden Regen bestimmte Orte erreichte.
Heute unvorstellbar, wie es ist, irgendwo mitten in der Nacht anzukommen
und auf jemand Fremden angewiesen zu sein, der einem Unterkunft gewährt,
weil alles geschlossen hat. Diese Diskrepanz zwischen verschiedenen Reiseerfahrungen
zu erleben, indem man Orte anfährt, ist wunderbar.
Übrigens gibt es eine Arbeit, die auf seine Reisebeschreibung
zurückgeht und die ich auch so genannt habe. Es handelt sich um den
ehemaligen, im 19. Jahrhundert in den Bergen trockengelegten Lago di Fucino.
Ein riesiger See, dessen Boden jetzt platt planiert und ungeheuer fruchtbar
ist. Diese Gegend habe ich so fotografiert, daß sie wie eine grauasphaltierte,
mit einer Dampfwalze niedergemähte Fläche und ganz unnatürlich
ausschaut.
Hast du vom Auto aus überhaupt ein Gefühl für die Gegend?
Oh doch, denn ich fahre nie so schnell von A nach B, sondern benutze Nebenstraßen
in der Hoffnung auf mögliche Bilder. Es ist zwar zeitaufwendiger,
Seitenstraßen zu nehmen, hier und da auszusteigen, um ein bißchen
herumzulaufen, aber erfolgsversprechender als den kürzesten Weg über
die Autobahn einzuschlagen. Man kann auf diesen Umwegen vieles schön
miteinander verbinden, indem man sich ein Ziel herausgreift, weil man
auf der Strecke Motive für Bilder vermutet, dabei man das Programm
durch Tips aus dem Reiseführer erweitert und so das Ziel auch noch
begründet. Auf dem Weg dahin besteht die Möglichkeit, irgend
etwas zu finden, was in den zu bearbeitenden Themenkreis hineinpaßt.
Ich nehme mir aber keineswegs vor, meinetwegen zum Castel del Monte zu
fahren, um darüber eine Arbeit zu machen. Vielmehr nutze ich die
Erfahrungen auf dem Weg dorthin für Bilder.
Interessieren dich Zwischenräume?
Ja, ich vermute da eher als anderswo Arbeitsmöglichkeiten. Zudem
mag ich es, hinter die Kulissen zu schauen, indem ich Seiten- und Umwege
in Kauf nehme. Rein gar nichts bekommt man mit bei der Fahrt über
von Lärmschutzwänden eingekesselten Autobahnstrecken. Zwischenräume
lassen mehr Möglichkeiten zu, wobei ich unter Zwischenraum nicht
nur den Bereich zwischen zwei Orten verstehe, sondern auch die in der
Arbeit auftreibbaren Zwischenräume. Dazu das Beispiel einer ganz
nebenbei und außerhalb der Reihe entstandenen Arbeit, wo ich in
Italien an kleinen Sträßchen, die zu abgelegenen Bauernhöfen
führen, Briefkästen fotografiert habe. Wenn die da bis zu zehn
Stück nebeneinanderstehen, so hat das etwas Narratives.
Warum die Trennung? Hier die Arbeit aus Privatvergnügen und dort
die für den
Kunstmarkt?
Ja, du hast recht. Das hört sich jetzt so an, als würde ich
irgendwo hinfahren, um große Kunst zu machen, während zwischendurch
heimliche Bilder entstehen.
Eigentlich steckt beides in dir, sowohl das Narrative als auch das
Reduzierte, nicht ?
Narratives interessiert mich in der Tat stark.
Trennst du beides aus strategischen Gründen?
Nein, das nicht. Wenn ich an Nichtnarrativem arbeite, so möchte ich
es auch streng halten. Nebenher gibt es eben das, was ich in Klammern
gesagt habe, eben solche Bilder wie die Briefkästen, denen ich auch
keinen anderen Aspekt als den narrativen hinzufügen möchte.
Dort geht es eben nicht um Farbflächen oder abstrakte Dinge. Das
ist etwas Eigenes. Meine Themenkreise lassen sich
folglich zweiteilen. Da das Abstrakte und dort das Narrative. Beides soll
sich nicht vermischen.
Du hast vor zehn Jahren ein Buch herausgegeben, quasi eine Bildersammlung
anonymer Fotografen, mit deren Hilfe du eine Stadt entworfen hast. Worum
ging es dir da? Und: Wie kamst du auf die Idee?
Das war eine Auftragsarbeit. Damals fand ich es reizvoll, eine Stadt,
die so nie existierte, neu zu entwerfen, wie du sagst. Das Düsseldorf
im 19. Jahrhundert, wie es sich in frühen Fotografien von 1850 bis
zum Ersten Weltkrieg zeigt, das beschreibt ja einen Zeitraum und keine
Stadt, wie sie irgendwann existierte.
Die Erkenntnis, daß es sich um eine künstliche Stadt handelt,
war insofern aufschlußreich, als sich meine Arbeit ein bißchen
daran umorientierte. Denn da verließ mich der Glaube am Abbildhaften
der Fotografie. Seitdem ist mir klar, daß es eben nicht möglich
ist, auf Fotos etwas zu zeigen nach dem Motto "So sah es damals zur
guten alten Zeit aus". Die verlorene Zeit ist in Bildern weder dargestellt
noch darstellbar. Die Stadt, und gerade Düsseldorf, unterliegt einem
Prozeß ständiger Veränderung.
So wurde z.B. in der Altstadt die klassizistische Architektur mit einem
geraden Gesimsabschluß auf die mittelalterliche Backsteinarchitektur
mit Treppengiebel aufgestülpt. Danach wieder alles abgerissen, wurde
alles mit der sogenannten Gründerzeit verdekoriert, indem man Barock-,
Neorenaissance- und Klassizismuselemente darauf setzte. Und das wurde
schließlich durch eine neue Architektur wie die Kaufhof-Jugendstilbauten
von Joseph Maria Olbrich ersetzt. Dieses Prozeßhafte, dieses Nach-
und Nebeneinander ist mit einer einzigen Fotografie nicht vermittelbar.
Diejenige, die vorgibt, den Gesamteindruck zu vermitteln, lügt. Aufgrund
der Erfahrungen mit dem Buch ist mir nachträglich klar geworden,
daß die Bunker so, wie aufgenommen, gerade mal zu dem Zeitpunkt
aussahen, als ich sie fotografierte. Die Zeit geht darüber hinweg.
Was hat dir die Recherche zur Architekturfotografie gebracht?
Zum einen das Hinterfragen der eigenen Arbeit und zum anderen mehr Einblick
in die Herangehensweise verschiedener Autoren. Die Bilder der einen, beauftragt,
bestimmte Gebäude möglichst repräsentativ in Szene zu setzen,
unterschieden sich von den anderen, bemüht um eine enzyklopädische
Stadt-Darstellung.
Wieder andere, mehr von der Malerei her kommend, setzten auf einen so
freien wie künstlerischen Umgang mit dem Thema. Während einige
starkes Seitenlicht einsetzten, um Strukturen und Formen zu betonen, bevorzugten
andere, der Art der Bechers verwandt, eher gleichmäßiges Licht.
Hat sich mit der Arbeit an dem Buch dein Bewußtsein von Fotografie
verändert?
Ja, wie gesagt: Ich habe den Glauben an die Möglichkeit fotografischer
Realitäts-Darstellung verloren. Daraus ergab sich meine Idee, fotografierend
die Balance zwischen Sichtbarem und Nichtsichtbarem zu halten. Der Betrachter
soll sich nicht so sicher sein, ob, was er erkennt, wirklich dem Gezeigten
entspricht und ob da überhaupt eine Aussage über das Abgebildete
vorliegt. Dieses Offenhalten durch plötzlich auftauchende Fragen
erwies sich als eine gute, aus der Arbeit am Düsseldorf-Buch gezogene
Erfahrung. Man vermutet ja im Umgang mit historischer Fotografie eher
das Gegenteil.
Nämlich, dort müßte sich bestätigen, daß die
Fotografie objektiv, also genau in
sich aufnimmt, was gewesen ist
Wie erlebst du vor diesem Hintergrund die TV-Bilder vom Krieg im Kosovo?
Das ist eine in Richtung von Paul Virilio gehende Frage. Mittlerweile
ist es ja wirklich so, daß die kleine, in den Cruise Missiles installierte
Kamera wirklich bis zum Tilt des Bildschirms zeigt, wo es genau hingeht,
ob auf eine Brücke oder auf ein Rüstungskomplex. Das Problem,
nämlich die Gleichzeitigkeit von Anvisieren und Zerstören, zeigte
sich ja schon damals im Golf-Krieg.
Kannst du überhaupt noch Bildern vertrauen?
Nein. Die Gefahr liegt in der Reduzierung auf Videoclip-Format. Jedoch
rückt alles näher, und man weiß, wo der Krieg stattfindet.
Im Fall von Irak war das Land den meisten unbekannt, denn da machten so
gut wie keine Westdeutschen Urlaub. Zu Jugoslawien haben sie eine engere
Beziehung. Der
Krieg rückt also immer näher. Wenn er dann eines Tages vor unserer
Haustür steht, ist es zu spät.
Daß eines unserer Ferienländer bombardiert wird, müßte
Trauer auslösen. Tut's
aber nicht!
Nein, man hat es ja damals in Kroatien und Bosnien gemerkt. Da fuhr man
hin, obwohl hundert Kilometer weiter im Hinterland der Krieg tobte. Den
Urlaubern war offensichtlich scheißegal, was da passierte. Das ist
mehr als peinlich.
Gedankensprung, was reizte an der Auseinandersetzung mit Architektur?
Der Arbeit an den Bunkern folgten die Recherche für das Düsseldorf-Buch
und zwangsläufig die Beschäftigung mit den Wohnhäusern,
wo ich meine aus dem Düsseldorf-Buch gezogenen Erkenntnisse umzusetzen
versuchte. Diese Arbeit beruhte darauf, daß es in der Architektur
keine Originalzustände gibt. An den Wohnhäusern gefiel mir,
wie die Bewohner an dem architektonischen
Originalzustand individuelle Veränderungen per Klinkerfassaden, Anmalereien
und Gartengestaltung vornahmen. Es war spannend, die Stellen zu sehen,
wooptische, an Farbflächenkunst erinnernde Veränderungen unfreiwillig
stattfanden. Diese wollte ich vor dem Hintergrund herausstellen, daß
der
Originalanspruch gar nicht haltbar ist. Das Ganze bewegte sich bereits
in Richtung meiner technischen Baukonstruktionen. Dort fotografierte ich
Architektur, darunter Baugerüste und Konstruktionen von temporärem
Charakter so, daß man keine direkten Hinweise über deren Funktionen
erhält.
Letztlich wollte ich vorführen, daß sich dabei minimal-artige
Objekte rein zufällig ergeben.
Ging es dir um die Darstellung der Funktionslosigkeit?
Nein. Ich habe es deshalb so aufgenommen, damit man keinen direkten Bezug
zur Identifizierung geliefert bekommt. Man soll eben nicht sofort erkennen,
was es ist, und sich damit beruhigen, es handle sich um einen Kran oder
ein Baugerüst. Es geht keineswegs um die Funktionslosigkeit, sondern
um die Darstellung der Form an sich, losgelöst von deren Funktion.
Bei den Bechers
waren Funktionen ja immer mit Formen verzahnt. Mir lag, wie im Fall der
Felder, hingegen an abstrakten Formen und Farben. Auch die Bunker wirken
mehr wie abstrakte Formen und nicht näher definierbare Betonklötze.
Wie gingst du bei den Konstruktionen vor?
Statt zu recherchieren, was unmöglich war, verließ ich mich
auf meine Intuition, dorthin fahrend, wo ich Baustellen vermutete. Dort
isolierte ich die Konstruktionen per Ausschnitt vom Rest der Baustelle.
Als ich die Wohnhäuser thematisierte, fuhr ich in kleinbürgerliche
Wohngegenden, solange suchend,
bis ich etwas Geeignetes fand. Das Prinzip Zufall half mir dabei.
Um die Vermittlung von Empfindungen geht es dir wohl nicht?
Das finde ich in der Fotografie völlig uninteressant. Es geht mir
um Konstruktives, Sublimes und Zwielichtiges, daß auf mehreren Ebenen
funktioniert. Was ich in der Fotografie hasse, ist, wenn man direkt irgendwohin
geführt oder einem ein bestimmtes Gefühl vermittelt wird. Wenn
ein Fotograf eine Aussage treffen, ein bestimmtes Dekor zeigen oder bestimmte
Inhalte evozieren will, so finde ich das nicht nur schrecklich, sondern
auch austauschbar.
Liegen dir andere Fotografen wie August Sander am Herzen?
Nein. Zwar schätze ich deren Arbeit, aber nicht in bezug auf meine
eigene.
Vieles von August Sander mag ich, und mir gefällt auch seine Darstellung
der Geschichte der Menschen zu seiner Zeit. Das ist zwar ein Epochenwerk
und Meilenstein, aber für mich irrelevant.
Der direkt anwesende Mensch spielt bei dir keine Rolle?
Bisher noch nicht, aber es ist ein reizvolles Thema, das ich eher narrativ
angehen würde: Personen in ihren persönlichen Räumen, durch
die sie sich definieren.
Gibt es noch andere Beispiele des Reisens mit literarischen Texte im
Gepäck?
Eine Reise führte mich mal nach Polen bis an die ukrainische Grenze
zusammen mit einem befreundeten Sammler. Ganz kurzfristig bin ich da mit
auf den Zug aufgesprungen, und er beschäftigte sich im Vorfeld und
unterwegs mit Joseph Roth. An der Grenze fragte ich in einem Antiquariat
nach, ob sie etwas von Ludwig Wittgenstein hätten, und man verneinte
mit dem Hinweis,Hitlers Mein Kampf im Angebot zu haben. Damit war
für mich die literarische Ecke der Reise abgeschlossen. Es ist zwar
einerseits ganz schön, Gegenden mit dazu passender Literatur im Handgepäck
zu bereisen, aber
andererseits auch sehr nostalgisch. In erster Linie lese ich Reiseführer
aus reinen Orientierungsgründen.
Warum Wittgenstein?
Weil der da unten in Galizien im Krieg an der Front war.
Reisen ins Ferne ist deine Sache nicht?
Der Expeditionscharakter einer Reise ist mir wesensfremd. Ich bin auch
der Meinung, daß es keine unberührte Natur mehr gibt. Irgendwo
in die Ferne zu reisen, beinhaltet ja immer einen enormen Aufwand und
die Vorstellung, daß da etwas noch nicht erfaßt ist. Aber
im Grunde ist alles via Satellit längst erfaßt, oder es fliegt
dort einem mindestens ein Flugzeug über den Kopf hinweg. Alles ist
über soziale Zusammenhänge definiert.
Das findest du beruhigend?
Nein, ich finde es weder beruhigend noch schön. Aber es ist eine
Tatsache, daß man sich nirgendwo frei bewegen und von unberührter
Natur sprechen kann. Die Zeit ist vorbei. Insofern finde ich den Aufbruch
ins Ferne unpassend. Es mag sein, daß manche meiner Arbeiten so
aussehen, als kündigten sie von der Antarktis, und das beweist mir,
wie unnötig es ist, dorthin zu fliegen.
Wohin führte dich deine weiteste Reise?
In den Südwesten Amerikas. Aber ich habe nicht vor, die Reise zu
wiederholen.
Verstehst du dich eher als Erkunder deines nächsten Umfeldes?
Nein, ich bin keineswegs jemand, der behauptet, die nähere Umgebung
sei so schön und reich, daß ich dort alles finde. Das ist es
nicht. Hier in Deutschland, in Italien, Belgien oder in Polen habe ich
stets so fotografiert, daß die Orte so wirkten, als seien sie überall.
Ich fände es störend, wenn Landschaften
eindeutig identifizierbar wären. Ich will nicht, daß sich sagen
läßt, ich sei hier, da oder dort gewesen. Bezogen auf die monochromen
Naturfelderkomplexe, kommt es darauf an, Bilder von ihrer unmittelbaren
Umgebung zu lösen. Sie sollen neutral erscheinen, damit daraus Bilder
werden, die ganz aus sich heraus definierbar sind. Es ist egal, ob die
Aufnahmen in Wuppertal, Ischia oder Krakau gemacht sind. Bei architektonischen
Motiven finde ich es wieder ganz hilfreich, weil das eben mehr den Kontext
entschlüsselt.
Gibt es Gegenden, wo du dir zu fotografieren verbietest?
Nein. Ein gutes Bild ist überall möglich. Es ist überflüssig,
daß der Kontext eines bestimmten Motivs mit ins Bild einfließt.
Gebäude, Straßen oder Vergnügungscenter, die sich dort
im Umfeld befinden, gehören nicht ins Bild. Deswegen fotografierte
ich ja auch in den sozialen Trümmern, wobei das Bild,
das dabei heraussprang, damit absolut nichts zu tun hatte. Wie gesagt,
die Umgebung ist nicht so wichtig. Aber, du hast recht, ich würde
mich weigern, in Krisengebieten wie Kosovo zu fotografieren. Dort, wo
Flüchtlingsströme ziehen, Menschen hungern oder sterben, ist
es geschmacklos, auch zynisch, an Kunst für die Ewigkeit zu denken.
Worin liegt der Unterschied zwischen Fotografie und Film?
Film ist in der Lage, durch seine Technik, Kamerafahrten, Perspektivwechsel,
Ton, Handlung und durch versetzte Schnitte Dinge ganz anders zu beleuchten
und ganz andere künstlerische Aussagen zu treffen als die nur singulär
Bilder erzeugende Fotografie.
Welche Filmemacher beeindruckten dich?
Der frühe Wim Wenders mit . Alice in den Städten
Weil ...?
... er etwas Lakonisches beim Erzählen der Geschichten hat, ohne
auf bestimmte Highlights zu schielen. Bei Wenders passiert nichts, was
einen direkt aus dem Sessel haut, und trotzdem ist da ein ungeheurer Reichtum.
Mich reizten auch noch seine endlosen Fahrten durchs Rheintal. Sein Film Im Laufe der Zeit gefällt mir jedoch heute gar nicht mehr.
Welche Bilder aus Wenders Filmen sind dir geblieben?
Ja, beispielsweise die Szene aus Alice in den Städten , wo
die beiden am Strand von sich Polaroids machen, oder jene mit den beiden
nebeneinander herfahrenden Zügen, wobei Nastassja Kinski in dem einen
Zug sitzt, die Handlung hin- und herspringt, wobei man immer den anderen
Zug sieht, parallel zur Landschaft. Aus Der amerikanische Freund erinnere ich das Billardspiel mit Dennis Hopper.
Wer von den Filmemachern begeistert dich noch?
Das wechselt ständig. Eine Zeitlang waren es die italienischen Neorealisten
mit ihrem Versuch, eine Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt so zu
definieren, daß sie daraus eine neue Kunstform kreierten. Die
Stunde Null , in Deutschland gedreht, einfach wunderbar. Vielleicht
gehören diese
Seheindrücke und die Bunker-Erfahrungen in den gleichen Kontext.
Da sehe ich den kleinen Jungen vor mir, der völlig orientierungslos
durch Berlin rennt, dort mißbraucht wird und Selbstmord begeht.
Wann wird Fotografie zur Kunst?
Wahrscheinlich, sobald jemand behauptet, das sei Kunst. Aber für
mich wird Fotografie zur Kunst, wenn es über die Repräsentation
eines Motivs hinausgeht per Nachsinnen darüber, was die Fotografie
vom Abbild unterscheidet. Kurz und gut, die Fotografie avanciert zur Kunst,
wenn sich daran die Frage nach der Bildfindung verifizieren läßt.
Auch wer ohne künstlerischen Anspruch fotografiert, macht Bilder.
Was daran ist
anders?
Grundsätzlich ist der Anspruch und die Herangehensweise verschieden.
Es ist ja nicht nur die Frage, ob ein Bild scharf ist. Jeder, der technisch
weniger Aufwand beim Fotografieren betreibt, kann Kunst machen. Der Unterschied
ist der, daß im Kopf eine Idee ist, ehe man auf den Auslöser
drückt. Was ich sage, gilt auch für die Malerei. Wenn jemand
etwas abmalt, so ist das ja keine Kunst. Auch bei einem Maler findet eine
Auseinandersetzung mit dem, was er malt, im Kopf statt. Kunst geht durch
den Kopf, so würde ich es formulieren.
Auch bei der Modefotografie ist das Bild nicht auf seine Schärfe
reduzierbar. Auch dort wird ein Ausschnitt festgelegt, geeignete Orte
ausgesucht, für entsprechende Belichtung gesorgt. Auch da findet
ein Bildfindungsprozeß statt.
Nun sage ich ja nicht, daß andere, die keine Kunst machen, nicht
über ihr Bild nachdenken.
Klaus Honnef sprach von intentionaler Fotografie, was insofern stimmt,
als dort, um ein Produkt zu verkaufen, ein bestimmter Bildinhalt konzipiert
wird. Einem künstlerischen Foto wird ja kein strategischer Sinn unterlegt;
es ist ja viel offener. Bezeichnenderweise sieht Modefotografie
immer mehr nach Kunst aus, wohingegen die künstlerische Fotografie
mehr und mehr der angewandten ähnelt, da dort immer weniger und in
der Mode- und Werbefotografie immer mehr in Schwarzweiß fotografiert
wird. Das Künstlerische, womit die Kunstfotografie in Deutschland
anfing, hat jetzt vor allem in der angewandten Fotografie seinen Platz.
Was folgern wir daraus?
Es zeigt nur, daß die Werbung vieles aus der Kunst adaptiert. So
wurden ja auch die Piet-Mondrian- oder Matisse-Muster übernommen
und so stark von der Werbung geplündert, daß wir es leid geworden
sind.
Wie erklärst du dir den Rückzug der Kunstfotografie aus früher
von ihr besetzten
Bereichen?
Die Kunstfotografie zieht sich nicht auf etwas zurück, sondern verzichtet
auf Knallerreize, weil sie Widerstand gegen die unsere Wahrnehmung täglich
überrollende Reizüberflutung leistet. Da schaltet die Kunstfotografie
einen Gang zurück, um die Augen für Übersehenes zu öffnen.
Danach kann man
vielleicht erneut starten. Aber jetzt das immer noch mehr zu toppen, das
wird immer schwieriger und belangloser. Nur ist der Punkt der "Neuen
Nüchternheit", wie sie aus der Becher-Klasse hervorging, mittlerweile
längst überschritten und nicht mehr der Weisheit letzter Schluß.
An wen denkst du jetzt?
Beispielsweise an Thomas Demand und Nan Goldin, deren Ansatz ja ein ganz
anderer ist. Deren Bilder sind so erfrischend, weil sie sich vom Nullpunkt
rasant wegbewegt haben, daß man endlich wieder auf andere Gedanken
kommt, auch für die eigene Arbeit. Um auf Demand zurückzukommen,
so ist,was er evoziert, ja insofern etwas ganz anderes als mein Ansatz,
als er ja irreale Räume schafft, während ich auf reale zurückgreife.
Ich finde es reizvoll, etwas an der Realität zu überprüfen,
statt Räume zu kreieren.
Er imaginiert keine Räume, sondern baut sie nach Fotos aus bunter Pappe
im
Maßstab 1:1, um sie zu fotografieren.
Aber er baut sie erst einmal, und so sehen sie in der Realität nicht
aus. Das heißt, er schiebt noch ein Arbeitsschritt dazwischen. Während
er irreale Räume nachrealisiert, irrealisiere ich reale Räume,
weil mir daran liegt, die Realität so aufzuheben, daß man sich
fragt, ob, was man sieht, real oder ein autonomes Bild ist. So springe
ich mit Wirklichkeit um.
Warum fotografierst du heute nur noch in Farbe und nicht mehr wie früher
in
Schwarzweiß?
Dem Betongrau der Bunker entsprach der Farbton Zone5 Grau als Durchschnitt
aller Hellig- und Dunkelheitswerte in der Schwarzweiß-Fotografie.
Zudem war es eine Möglichkeit, alles zu reduzieren. Landschaften
in Schwarzweiß zu fotografieren, kann ich mir nicht vorstellen.
Nun gehst du mit Farbe sparsam um. Wie geht das?
Durch die Wahl des Filmmaterials und entsprechenden Lichteinsatz. Bei
den Landschaftsaufnahmen habe ich stets bei starkem Sonnenlicht gearbeitet,
weil es bestimmte Strukturen und Farben besonders hervorhebt, während
bei bedecktem Himmel alles mehr versuppt. Das Ganze ist erst durch
Ausklammerung des Horizonts möglich, der bei strahlendem Sonnenschein
in Hellblau ausufert. Apropos Farbe, es gibt da keine Motive, die mich
ansprechen. Tulpenfelder in Holland sind mir einfach zu plakativ. Ich
bin vom Typ her keiner, der das Schrillbunte in Bildern verträgt.
Drückt sich dein Charakter in den Bildern aus?
Gewiß haben die Bilder mit mir zu tun. Aber es würde mich stören,
wenn ich mit den Motiven verschmelzte. Das Nachdenken über die Kunst
in der Fotografie, das Offenhalten und Balancieren haben wohl mehr mit
meinem Charakter zu tun.
Was sagt dir der Begriff der Subjektivität?
Auch wenn alles eher sachlich fotografiert ist, so sind die Standpunkte
und Motive so subjektiv wie intuitiv. Subjektivität heißt für
mich, einen Standort beziehen, wobei ich keinen Kamerastandpunkt meine,
sondern einen Standpunkt, den ich bei meinem Tun einnehme.
Spielen Theoretiker der Fotografie für dich keine Rolle?
Zwar habe ich Susan Sontag gelesen, aber schnell wieder vergessen. Ich
kann mit keinem Wust im Kopf losmarschieren, um zu fotografieren. Da setze
ich lieber auf meine persönliche Erfahrung, die letztlich meine Bilder
ausmacht. Ein Jeff Wall, der auch theoretisch arbeitet, kann ja endlos
referieren, wie er was warum macht. Das ist nicht mein Ding.
BIOGRAPHISCHE DATEN
BORIS BECKER, geboren 1961 in Köln. 1982-1984 Studium an der Hochschule
der Künste Berlin bei Wolfgang Ramsbott. 1984-1990 Studium an der
Kunstakademie Düsseldorf bei Bernd Becher.
Einzelaustellungen (Auswahl):
1991 Artothek, Köln. 1992 Busche Galerie, Köln. 1993 "ArchitekturZeit"
Kulturzentrum des Landes Schleswig-Holstein, Salzau. 1994 Kunstsammlung
Tumulka, München; Galerie Ulrich Fiedler, Köln. 1996 Galerie
Conrads, Düsseldorf. 1997 Villa Massimo, Rom; Kunstverein Bremerhaven.
1998 Albrecht Dürer Gesellschaft, Kunstverein Nürnberg; Aschenbach
Galerie, Amsterdam;
Kunstmuseum Bonn. 1999 Goethe Institut Rotterdam.
Gruppenausstellungen (Auswahl):
1989 "1. Deutscher Photopreis 1989", Stuttgart, Braunschweig.
1990 "Local Detail", Victoria Miro Gallery, London. 1991 "Six
Young German Photographers", Ileana Sonnabend Gallery, New York;
"Dreizehn Gebote", Kunsthalle Düsseldorf. 1992 "Deutsche
Kunst mit Photographie",Architekturmuseum, Frankfurt; Rheinisches
Landesmuseum, Bonn; Kunstverein Wolfsburg.
1995 "Mehr als ein Bild", Sammlung Siemens, Sprengel Museum,
Hannover;. "KölnKunst", Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln.
1995 Galerie Fahnemann, Berlin; Städtisches Museum Zwickau; Kunsthalle
Bremen. 1996Busche Galerie, Berlin. 1997 "Invisible Light",
Museum of Modern Art, Oxford;
"Sous le signe de Renger-Patzsch", Musée de l'Elysée,
Lausanne; "L'Estasi Fotografica", Galleria Bonomo, Rom. 1998
"When Season Becomes Form", Kulturallianzen, Köln; "Nach
Rom", Stipendiaten der Villa Massimo, Freunde Aktueller Kunst, Zwickau.
1999 Galerie Trabant, Wien; "Insight Out",
Landschaft und Interieur als Themen zeitgenössischer Photographie,Kunstraum
Innsbruck, Kunsthaus Hamburg, Kunsthaus Baselland; "Identity and
Environment", Museum Ludwig Budapest.
Heinz-Norbert Jocks: Gepräch mit Boris Becker (Gespräche mit Künstlern,
Bd. 1146)
thank you for your interest